Ich war früh dem Bett entflohen und saß bereits frisch gestylt an meinem Schreibtisch. Viel Platz zum Arbeiten hatte ich nicht, denn links und rechts von mir türmten sich die Steuerunterlagen, die ich heute noch durcharbeiten wollte.
Plötzlich läutete mein Telefon. Jochen. Ich lächelte mein Mobiles an und hob ab: „Na Schatz, was gibt’s?…Aha. Ja. Welche Creme genau? Gut hole ich dir. Noch was, wenn ich schon ins Zentrum fahre?…Bring ich mit. …. Ach übrigens, was willst Du heute Abend essen?..o.k. Ich lasse mir was einfallen. Bis später.“
Als ich aufgelegt hatte, schaute ich flüchtig auf die Uhr. Erst neun. Ich griff nach dem Zettelblock, den ich immer parat hatte und notierte kurz die Einkäufe. Als ich im Begriff war aufzustehen, um den Inhalt unseres Kühlschranks näher unter die Lupe zu nehmen, schweifte mein Blick über die Türme von Unterlagen. Der Stuhl zog mich magisch zurück und so verschob ich mein Vorhaben auf später.
Der Stapel links von mir hatte stark an Höhe verloren und die gelbe Orchidee rückte wieder in mein Blickfeld. „Blumengießen“ durchzuckte es mich. Ich sprang auf, schnappte mir die grüne Kanne und rannte ins Bad. Dann begann ich meine Schützlinge an der Südseite zu versorgen. Hier war der Bedarf am Größten, was mir einige Orchideen auch eindrucksvoll mit gelben Blättern demonstrierten. So wurde mein schlechtes Gewissen noch größer und ich rannte schnell ins Bad zurück, um einige Düngepatronen zu holen. Dann steckte ich die kleinen Ampullen kopfüber in die Töpfe, die mich am vorwurfsvollsten ansahen und atmete tief durch. Ich schüttelte, enttäuscht über mich, den Kopf und brachte die Kanne wieder zurück ins Bad. Jetzt war ich schon sechs Monate zu Hause. Da werde ich mich doch wenigstens in Haus und Garten um alles kümmern können.
Mein letzter Gedanken steckte noch in den Gehirnwindungen fest, als ich ein Stechen in der Magengegend spürte. Schlagartig krümmte ich mich zusammen und legte meine Hand auf den Oberbauch. Dann schlich ich zum Schreibtisch zurück und sank auf den Bürostuhl. Ruhig atmete ich aus und ein und genoss die wohltuende Wärme meiner Hand. Alles wieder gut, sagte ich mir. Alles wieder gut. Dann drehte ich mich zum Schreibtisch und zog die letzten Unterlagen des linken Stapels an mich. Nach und nach konnte ich dann auch über den rechten Turm sehen und freute mich über meine geleistete Arbeit. Als ich jedoch zur Uhr sah, erschrak ich erneut. Eins. Einkauf! Essen! Noch Nichts war erledigt! Ich sprang auf und rannte aus dem Büro.
Im Kühlschrank sah ich nur in eine gähnende Leere. Ich schmiss die Tür zu, riss die Tür des Gefrierschrankes auf und durchwühlte das obere Fach. Als ich Restebeutel von Schinken und Speck fand, stand mein Entschluss fest: Erbeneintopf. Ich zerrte die Tüten ans Licht und zog mir zügig den Schnellkochtopf aus dem Schrank. Dann purzelte der Tüteninhalt auch schon hinein und ich platzierte alles auf dem Herd. Während meine Augen schon das Rondell nach Schälerbsen abscannten, angelte ich mit der rechten Hand nach einem Rührlöffel. Endlich hatte ich beides. Die Erbsen kullerten in den Topf und der Löffel durfte es sich noch neben der Herdplatte bequem machen.
Ich schaute mal wieder auf die Uhr und erschrak. Zwei. Bin ich langsam. Das hätte ich früher in zehn Minuten erledigt. Ich schüttelte abermals enttäuscht den Kopf. Plötzlich meldete sich mein Magen wieder zurück und zog sich krampfartig zusammen. Schnell legte ich meine Hand darauf und hoffte auf Linderung. Nichts. Beim Versuch zu atmen wurden die Krämpfe immer heftiger und ich hatte das Gefühl, dass mein ganzer Körper sich in die Magengrube zurückziehen wollte. Alle Versuche mich aufzurichten, waren vergebens. Ich sank auf den Küchenstuhl und versuchte in kurzen Schüben wenigstens etwas Atem zu bekommen. Verdammt! Das war ein Fehler. Meine Hände fingen an zu summen und verdrehten sich. Shit! Wo ist deine Hyperventilationsmaske? Egal! Ich brauchte dringend eine Tüte. Die Frühstücksbeutel von Jochen. Ja, da komm ich ran. Ich ließ mich auf den Boden sinken und kroch zum Apothekerschrank. Endlich, da waren sie. Ich blieb ich auf dem Boden sitzen, zog mir die Tüte über Mund und Nase und versuchte ruhig zu atmen. Nach und nach verlor sich das Summen in meinen Händen und ich wurde ruhiger.
Du bist ein Wrack, Claudia. Nicht mal die einfachsten Sachen kannst du erledigen. Tränen kullerten über meine Wangen und mein schlechtes Gewissen wuchs ins Unermessliche. Aber ich konnte nicht aufstehen. Die Krämpfe waren stärker geworden und hinderten mich wieder daran, ruhig zu atmen. Sofort stülpte ich mir die Tüte über Mund und Nase und wiederholte die Prozedur. Während ich immer ruhiger wurde, hörte ich im Nebenraum mein Handy klingeln. Ich zuckte zusammen. Nein Claudia. Jetzt nicht. Soll das Ding doch bimmeln. Du kannst nicht mehr. Beim letzten Gedanken erschrak ich und fing schlagartig an zu weinen. Ich weinte und weinte und spürte plötzlich wie sich ein wohliges Gefühl in mir ausbreitete. Also ließ ich es einfach zu und blieb sitzen.
Eines war mir gerade klar geworden. Nur Psychotherapie wird mir nicht helfen können. Ich musste anfangen einen neuen, meinen Weg zu gehen.